2648 Besuch eines Schiffes der Europäischen Forschungsstiftung auf Interia

Interia, Zentrum des Imperiums, Ursprung des interianischen Volkes, Quelle der Macht, Juwel des Reiches, kulturelle Hauptstadt, wissenschaftlicher Leuchtturm, industrieller Teraplex, Ordnungsmacht, Beschützer unzähliger Volker, Bewahrer des Friedens und seit 2000 Jahren Herz der umliegenden 2000 Lichtjahre.

Interia, diesen Namen hören die Menschen immer wieder. Das sei das Imperium. Das Imperium zu dem alles gehört. Das Imperium in dessen Machtbereich wir leben. Das Imperium herrsche durch seine Regionalzentren, heißt es. Kisor sei das lokale Zentrum. Kisor sorge im Auftrag Interias für Ordnung. Zumindest sei das immer so gewesen.

Aber noch nie haben die Menschen einen Interianer gesehen. Es gibt keine interianischen Raumflotten. Im Gegenteil, die bisherigen Erfahrungen der Menschen lassen auf eine gewisse Anarchie schließen. Auch wenn die Kisor-Zwillinge angeblich für Ordnung sorgen. Es hatte zwar bisher nicht viel Kontakt mit Kisor gegeben, aber wenn dann vor allem mit seinen Handelsgilden. Von militärischen Mitteln war noch nicht viel zu sehen. Und vor allem keinen Interianer.

Trotzdem sprechen viele Kontakte der Menschen vom Interianischen Imperium als die lokale Macht. Die Europäische Forschungsstiftung nimmt sich vor, dieses Mysterium aufzulösen. Sie rüstet 2 Raumschiffe aus für die lange Reise ins Herz des Imperiums über 1000 Lichtjahre.

Nicht alle sind glücklich über diese Mission. Einige befürchten mit einem Besuch erst die Aufmerksamkeit des Imperiums auf die Menschheit zu lenken. Vielleicht wäre es besser, sich bedeckt zu halten. Die Befürworter argumentieren, dass mit Kisor schon das Regionalzentrum des Imperiums von den Menschen weiß, dass der Schaden also nicht groß sein kann. Falls es dieses Imperium wirklich gibt. Manche vermuten sogar, dass dieses Imperium eine Erfindung Kisors ist, um bei der Durchsetzung kisorischer Interessen auf einen höheren Auftrag verweisen zu können.

Die beiden Schiffe, Dicke Hummel und Aegopodium Podagraria, kommen aus einer renommierten solaren Werft (Deimos Interstellars Corp., "Building Superluminals for over 200 Years“). Für die weite Reise werden sie mit Überlichttriebwerken von Artu und Kraftwerken von Thoris ausgestattet. Man heuert eine Gruppe von 5 Marui-Technikern an, die diese Anlagen warten können. Die Schiffe starten 2644 mit 80 Personen, je 15 für den Schiffsbetrieb, 22 Wissenschaftler, 8 Mitarbeiter des diplomatischen Dienstes der Koalition, der Expeditionsleitung und 13 Beobachter verschiedener Systemmächte.

Die Reise nach Interia dauert 3 Jahre. Davon sind nur 2 Jahre reine Flugzeit. Die übrige Zeit verbringt die Besatzung damit auf dem Weg Kontakte herzustellen, die genauen Koordinaten von Interia zu erfragen, sich nach günstigen Routen zu erkundigen, Navigationshindernissen auszuweichen, in einem weiten Bogen die Telugu-Domäne zu umfliegen, 3 der Marui wegen einer ansteckenden Krankheit zu einem Marui-Autodock zu bringen und mit dem letztlich vergeblichen Versuch, Ersatz für einen defekten Reaktor zu beschaffen.

Im Verlauf der Reise werden die Schiffe fünfmal geentert. Die Besatzung wird dreimal für kurze Zeit interniert, aber auch einmal als Vertreter eines neuen Imperiumsvolkes im Namen des Imperiums durch eine Schiffsparade willkommen geheißen. Auf Puraskar-III wird Expeditionsleiter Tolu Abani zum außerordentlichen Botschafter für das Puraskar-System ernannt, da die Hathrasi von Puraskar auch wissen wollen, was eigentlich mit Interia los ist. Dicke Hummel muss nach einem Jahr aufgegeben werden, da sich zu vernünftigen Preisen kein neuer Reaktor beschaffen lässt. Mit dem Schrottwert kann man aber immerhin einen Umbau bezahlen, um zusätzliche Ausrüstung und die Besatzung der Hummel an Bord der Podagraria unterzubringen. Außerdem werden 2 Marui angeheuert, die die erkrankten Kollegen ersetzen.

In einer Entfernung von 220 Lichtjahren vom Ziel erreicht die Podagraria das Droza-System, ein Hauptzentrum des Imperiums. Eine Patrouille bringt das Schiff weit außerhalb des Systems auf. Die Patrouille geleitet die Podagraria in das äußere System, wo eine Einsatzgruppe von 5 Schiffen übernimmt. Das System ist hochindustrialisiert, offensichtlich stark bevölkert und hat eine beeindruckende interplanetare Verkehrsdichte.

Die Podagraria wird mangels gültiger Zulassung zwangsweise stillgelegt. Ein Schlepper nimmt das Schiff auf und bringt es zu einer technischen Überprüfungsstelle im Droza-IX Orbit. Das besagt zumindest die Quittung.

Die Besatzung wird zum Orbitalring von Droza-V transportiert. Nach anfänglichen Missverständnissen und einigen Tagen Befragung im Fall "Imperium gegen Kapitän Thor Holland wegen Systemeinflugs ohne imperialen Pilotenschein" erkennt die Administration von Droza den Botschafterstatus des Expeditionsleiters an. Die Podagraria wird damit zum diplomatischen Kurierboot und die Besatzung erhält Immunität vor Strafverfolgung. Die Hathrasi von Puraskar wussten schon was sie tun, als sie Abani "alte, aber vermutlich noch gültige" imperiale Diplomaten-Codes mitgaben.

Abani bittet um Geleit nach Interia. Um die Sache abzukürzen lässt die Droza-Administration das Schiff auf einen Frachter verladen, der die Strecke nach Interia in einem Monat schafft. Eine Fregatte begleitet den Frachter.

Ohne weitere Zwischenfälle erreicht die Expedition Interia im August 2648 (1952/83 imperialer Zeitrechnung). Der Besuch ist schon angekündigt über das innere Relaisnetz.

Wie bei Droza ist das gesamte System sehr gut ausgebaut. Obwohl sich nur ein Planet, in der habitablen Zone befindet, sind offensichtlich 4 Planeten (Interia II bis V) besiedelt. Alle haben vollständige orbitale Ringe mit vielen Aufzügen, die wie Speichen eines Rades zum Planeten hinunter reichen. Überall sind riesige Installationen im Raum, manche eindeutig industriell. Es gibt sehr große Habitate darunter Hunderte von Kilometer lange Zylinder und unzählige technische Strukturen im inneren System, im interplanetaren Orbit, bei den Gasriesen und im äußeren Asteroidengürtel.

Ein Flottenverband empfängt die Podagraria. Der Verband wird von einer Person kommandiert. Inzwischen wissen die Expeditionsteilnehmer was das bedeutet. Personen sind die relevanten Individuen der interianischen Gesellschaft. Personen sind Oberhaupt eines Nestes und Mutter von Millionen Interianern.

Das Nest ist das Individuum. Das Nest wird vertreten durch das primäre Weibchen, die Person des Nests. Nur das primäre Weibchen legt Eier und bringt so alle Mitglieder des Nests zur Welt. Interianer haben sich aus einer Art Präriehunde mit weit verzweigten unterirdischen Nestern entwickelt. Allerdings leben sie schon lange nicht mehr in selbstgegrabenen Erdgängen. So wenig wie moderne Menschen in Höhlen leben.

Die einzelnen Mitglieder des Nestes sind selbständig denkende und fühlende Wesen. Aber sie betrachten sich nicht als Individuen, sondern als ausführende Hände des Nests, bzw. der Person. Nur die Person des Nests ist Bürgerin des Imperiums. Das Interia-System hat eine Population von 80 Milliarden. Insgesamt lebt etwa eine halbe Billion in den Nestsystemen des inneren Imperiums. Bei einer typischen Nestgröße von einer Million hat das Imperium nur etwa 500.000 Personen (oder Bürgerinnen).

Ursprünglich waren die Nester viel kleiner. In prähistorischer Zeit hatte ein Nest wenige tausend Hände. Es gab insgesamt nur ein paar hundert Personen und jede von ihnen stand mit allen Personen in der näheren Umgebung im Kontakt. Das waren früher eben nur die wenigen, die man mit prä-technischen Mitteln in einigen Stunden per Boten erreichen konnte. Mit genetischen Anpassungen und technischen Bewusstseinserweiterungen können die Personen heute mit allen 500.000 interagieren.

Parallel zur Ausweitung der Kommunikation erlaubte technische Unterstützung bei der Reproduktion eine massive Vergrößerung der Nester und damit individuellen Machtzuwachs. Der absolute Machtzuwachs durch die Nestvergrößerung relativiert sich natürlich, da alle Nester gewachsen sind.

Jede Person ist sich der Aktivitäten aller anderen stets bewusst. Sie wird informiert über deren Meinungen und Motive. Sie diskutiert und konkurriert ständig mit allen. Es gibt keine Abstimmungen oder Wahlen. Da alle im Wesentlichen die Meinungen aller anderen kennen, entsteht aus dem ständigen sozialen Ringen ein vorherrschender Konsens. Viele Personen sind durch ihre Meinungen miteinander verbunden. Kompatible Ansichten und gemeinsame Interessen führen zu Bündnisnetzwerken. Die Bündnisse entscheiden über den Einfluss einzelner Personen.

Die Meinungsführerin im Themenkomplex imperialer Strategie und Politik ist die Person des Imperiums, die mächtigste Person, repräsentatives Staatsoberhaupt, Moderatorin der Fraktionen, Integrationsfigur für alle 500 Milliarden, nach menschlichen Begriffen, die Kaiserin. Das Imperium ist gewissermaßen das übergeordnete Nest. Die Person des Imperiums ist das Imperium. Alle anderen Personen sind die Hände des Imperiums.

Vor 200 Jahren starb Addaja, die Person des Imperiums, im Alter von über 1200 Jahren. Addaja war die fünfte Person des Imperiums im interstellaren Zeitalter Interias. Ihre Vorgängerinnen hatten das Imperium zur derzeitigen Größe geführt. Aber dabei wurden die Ressourcen und die Gesellschaft stark strapaziert. Addaja beendete die Expansion. Ihre tausendjährige Regentschaft war ein goldenes Zeitalter der Stabilität, aber auch der Stagnation.

Nach einer Trauerphase begann das Ringen um die Nachfolge. Der Konflikt dreht sich um die Frage ob man die Expansion wieder aufnehmen oder die Stabilitätspolitik fortsetzen sollte. Seit 200 Jahren konkurrieren nun verschiedene Fraktionen um die Meinungsführung. Das ganze innere Imperium ist mit sich selbst beschäftigt in einem titanischen Ringen um Reputation, um wirtschaftliche, kulturelle und strategische Dominanz. Alle Personen sind in diese Auseinandersetzung eingebunden. Das Imperium zieht seine Kräfte zurück.

Noch nie hat die Auswahl der Person des Imperiums so lange gedauert. Inzwischen ist das Imperium in Gefahr. Die Regionalzentren betrachten sich schon als selbständig. Neobarbaren bedrohen die Grenzen. Sie räumen verlassene Depots aus und überfallen Zivilisationszentren.

Einige Personen beteiligen sich nicht am ständigen sozialen Wettkampf. Es gibt unabhängige Personen verschiedener Couleur: von Aussteigern, die der Reizüberflutung des Mainstreams entfliehen und in kleineren Gruppen mit Nestern ursprünglicher Größe leben, bis zu Einsiedlern ganz ohne soziale Interaktion. Es gibt Gesetzlose, die andere Nester überfallen und Exzentriker, die im Mainstream leben, sich aber dem sozialen Konsens verweigern.

Eine verantwortungsvolle Gruppe Unabhängiger sorgt sich mehr um das Imperium, als um ihren sozialen Status. Sie dienen dem Imperium, auch wenn sie sich dafür nicht am großen sozialen Diskurs beteiligen können. Das sind die Bewahrer. Sie führen die Strategie der Person des Imperiums fort, während die anderen mit der Auswahl der neuen Kaiserin beschäftigt sind.

Einer dieser Bewahrer empfängt die Podagraria. Interia ist erfreut über die Menschen. Ein neues Volk an der Grenze, das sich aus eigener Kraft in das interstellare Umfeld wagt. Ein Volk, das einigermaßen zivilisiert mit vorsichtiger Expansion beginnt. Ganz im Gegensatz zu Neobarbaren, die mit moderner Technik, aber barbarischen Sitten viele Probleme bereiten. Erfahrungsgemäß ist ein Volk wie die Menschen ein Kandidat für die zukünftige Führung eines Regionalzentrums.

Aber die Menschen haben ein Problem. Kurz vor dem Abflug der Expedition wurden solare Kolonien von Kelrecs überfallen. Man erwartet einen massiven Angriff auf das Solsystem. Der weit überlegenen Technik, die die Kelrecs aus interianischen Depots geplünderten haben, könnten die Menschen nichts entgegensetzen. Inzwischen sind 3 Jahre vergangen. Das Solsystem wird tatsächlich schon belagert. Die Menschheit steht vor dem Abgrund.

Die Bewahrer mobilisieren die interianische Militärmaschinerie und greifen Miro, den Heimatplaneten der Kelrecs, an. Die Belagerer ziehen sich zurück. Es wird die letzte große Flottenaktion des Imperiums.

Die Menschheit kommt mit einem blauen Auge davon.

http://jmp1.de/h2648

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