2115 Boom der Life-Themes

Life-Themes verändern die Wahrnehmung so dass die Welt einem gewählten Genre entspricht. Neuroimplantate, die Signale auf den Sinnesnerven von Augen und Ohren erzeugen, lassen die Welt anders aussehen. Man läuft durch die reale Welt, man sieht die reale Welt, aber das Aussehen aller Dinge wird in Echtzeit an das gewünschte Theme angepasst.

Wer in einer Großstadt wohnt, aber lieber auf einer tropischen Insel leben würde, kann sich alles in der Optik einer Südseeinsel darstellen lassen. Straßenlaternen werden zu Palmen, weiter entfernte Häuser werden durch einen Strand ersetzt. Die Sonne strahlt von einem blauen Himmel statt den dunklen Wolken in der Realität.

Wer im Mittelalter leben will kann sich ein Theme aus einer riesigen Sammlung von Mittelalter-Themes aussuchen. Häuser bekommen Zinnen, Beton wird zu Backstein, Fahrzeuge werden Kutschen und sogar Personencopter werden in große Vögel oder Drachen übersetzt.

Der Trend zu Life-Themes hat viele Vorläufer. Immer mehr Menschen erleben die Realität angepasst an ihre Vorstellungen. Neuroimplantate ändern die Wahrnehmung durch Ausblendung ungewünschter Dinge und Einblendung zusätzlicher Information.

Werbeblocker entfernen schon lange Werbebotschaften aus dem retinalen Datenstrom, bevor die Nervensignale die Verarbeitung im Gehirn erreichen. Virtags zeigen als eine Art Head-up Display virtuelle Anmerkungen, Hinweise und Wegweiser, die in das visuelle Zentrum eingespeist werden. Im Gaming Bereich gibt es seit langer Zeit Real Plays, die Fortsetzung von 3D VR-Technologien in der realen Welt. Games zeigen ihre Objekte als Ebene über der Realität.

Eine der ersten Anwendungen von sensorischen Neuroimplantaten waren Assistenten, die die Umgebung analysieren und in Echtzeit Ratschläge geben, wie zum Beispiel Daten, Diskussionsargumente oder Verhaltensanleitungen. Berüchtigt ist die Klasse der Wingman Flirt-Assistenten. Unersetzlich sind Assistenten für Ingenieure, die Baupläne schon lange nicht mehr als Papierrollen oder (Display-)Sheets mit sich herumtragen, sondern Diagramme jederzeit über die optische Wahrnehmung einblenden können. Und inzwischen völlig selbstverständlich sind Hintergrundinformationen und Reputationsratings zu allen Personen, die man trifft, die Assistenten der sogenannten Shiva-Klasse.

Es gibt auch schon länger Malware auf Implantaten, die die opto-akustische Wahrnehmung manipuliert. Manche Malware blendet Werbebotschaften ein, die dann Webeblocker umgeht. Es gibt sogar Malware, die reale Ereignisse anders darstellt, um Zuschauer zu täuschen, sogenanntes Feed-Spoofing.

Ein Life-Theme ist ein Software Modul. Es wird als Plugin auf dem Neuroimplantat installiert. Gute Themes sind nicht billig. Die Analyse der Szene in Echtzeit ist aufwändig. Sie kann handelsübliche Neuroimplantate schnell überlasten. Manche Themes arbeiten deshalb mit Streaming und servergestützter Szenenanalyse. Neben dem Vertrauens-Problem (alles was man sieht wird in das Netz geschickt und dort analysiert) leidet vor allem die Echtzeitfähigkeit. Schon wenige Millisekunden Ping irritieren. Deshalb muss die Szene eigentlich lokal analysiert werden. Das setzt gute (teure) Algorithmen und aktuelle (teure) Hardware voraus. Außerdem enthalten Themes Transformationsbibliotheken, Grafikroutinen und -daten, die je nach Preis von sehr unterschiedlicher Qualität und Vielfalt sein können.

Um Life-Themes entsteht eine riesige Ökonomie. Es gibt in jedem Genre viele Varianten und viele Hersteller. Ob Mittelalter, Fantasy, Steam-Punk oder Science Fiction. Es gibt in beliebten Genres hunderte Themes und tausende Varianten, Hacks und Add-ons.

Bald bringen die Unterhaltungsnetzwerke Themes ihrer IPs heraus mit denen sich Fans in den Welten ihrer Lieblingsserien bewegen können. Urlaubs-Themes sind sehr beliebt, wie auch viele andere Realwelt-Themes, die einfach nur eine andere (aber reale) Umgebung vorspielen - Städtereisen im Alltag. Einige Overlays sind vor allem jahreszeitabhängig beliebt, wie zum Beispiel das Add-on "Frau Holle" der Wetterwarte Zugspitze. Das Add-on zaubert auf alles eine Lage Neuschnee in einstellbarer Höhe. Eine nette Spielerei sind simple Render-Themes, die keine Objekte verändern, sondern nur die Optik anpassen, zum Beispiel im Comic-Stil (inklusive Sprechblasen statt Sprache), als Fresko, als Strichzeichnung, usw.

Es gibt für fast alle Produkte Upgrades und Mods. Es gibt offene und proprietäre Schnittstellen durch die sich Plugins in die Verarbeitungspipeline einhängen können um einzelnen Schritte zu verbessern. Life-Themes haben Schnittstellen zu Werbeblockern, Assistenten und all den anderen Anwendungen auf Neuroimplantaten, die inzwischen unverzichtbar geworden sind und natürlich auch im gewählten Theme dargestellt werden sollen.

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2389 Ablösung der Todesstrafe durch Biostasis-Einlagerung

Verurteilte Straftäter werden in ein künstliches Koma versetzt und in der Schwerelosigkeit gelagert. Ihr Metabolismus wird heruntergefahren und durch Nanosonden überwacht. Die so eingelagerten Körper verbrauchen nur geringe Ressourcen. Damit belasten sie die stationseigene Lebenserhaltung weniger als in klassischen Gefängnissen.

Viele Raumstationen hatten für Kapitalverbrechen lange an der Todesstrafe festgehalten, da in künstlichen Umgebungen eigentlich keine Mittel für den Betrieb von Gefängnissen zur Verfügung stehen. Normalerweise muss jede Person, die die Lebenserhaltung belastet, ihren Anteil selbst bezahlen, entweder finanziell oder indem ein wichtiger Beitrag zum Stationsbetrieb geleistet wird. Langjährige unproduktive Haftstrafen bedeuten, dass die Gemeinschaft die hohen Kosten tragen muss. Deshalb gibt es vor allem hohe Geldstrafen, die so bemessen sind, dass sie sehr lange abgearbeitet werden müssen. Geldstrafen werden oft verbunden mit Bewegungs- und Kommunikationseinschränkungen.

In schweren Fällen, wo Sicherungsverwahrung notwendig ist, kommt Gefängnis nur dann in Frage, wenn der Verurteile mit seinem Vermögen für die weitere Lebenserhaltung aufkommen kann. Andernfalls bleibt nur die Verbannung auf eine sogenannte Asylstation wo oft anarchistische Zustände herrschen und die Lebenserwartung nicht sehr hoch ist. Oder eben die Luftschleuse.

Der Begriff Biostasis ist eigentlich falsch. Die Körper altern schneller als im realen Leben. Der Metabolismus ist zwar verlangsamt, aber gleichzeitig sind körpereigenen Reparaturfunktionen auch reduziert. Bei langjährigen Einlagerungen bauen Muskeln und Knochen stark ab. Stoffwechselprodukte sammeln sich in Organen. Gelenke werden durch Ablagerungen eingeschränkt und auch im Gehirn sterben Zellen an mangelnder Aktivität und wegen chemischen Ungleichgewichten. Die Eingelagerten verlieren die Zeit der Strafe ohne sie zu durchleben.

Es gibt Techniken zur verlustfreien Einlagerung (sogenannte "konservierende Biostasis"). Sie werden aber für verurteilte Straftäter nicht angeboten, da das nur einen zeitlichen Ausfall ohne Verlust von Lebenszeit bedeuten würde. Für manche wirkt die Option so praktisch in die Zukunft geschickt zu werden nicht unattraktiv. Aus dem gleichen Grund ist eine passive digitale Speicherung nach Upload mit späterer Reaktivierung als Mech nicht vorgesehen.

Wenn ein Gericht entscheidet, dass ein verurteilter Straftäter von der Gesellschaft getrennt werden muss, dann ist die Biostasis-Einlagerung humaner und gerechter als die Alternativen. Sie ersetzt die Todesstrafe, die im Zeitalter von langen biologischen Leben und digitalen Backups als inhuman, aber doch als ökonomisch notwendig betrachtet wurde. Sie ersetzt auch die Verbannung, die oft einem Todesurteil gleichkam, da es Neuankömmlinge auf Asylstationen sehr schlecht erging. Mit Biostasis-Strafen erhalten alle Bevölkerungsgruppen, ob reich oder arm, die gleiche Behandlung. Vorher konnte man mit einem großen Vermögen die Todesstrafe abwenden wenn man die Lebenserhaltung während der Haft bezahlen konnte. Nun werden alle eingelagert bis die Strafe abgebüßt ist.

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